Copia - Not every news is relevant
2015Behavioral DesignSystem Critique4. Semester

Copia - Not every news is relevant

Copia ist eine Untersuchung darüber, wie permanente Verfügbarkeit Nachrichtenkonsum von bewusster Auseinandersetzung zu reflexhaftem Scrollen degradiert.
Copia

Das Timing

2025 zeigen Studien: Jüngere Menschen wenden sich von Nachrichten ab. Nicht aus Desinteresse, sondern aus Erschöpfung. Zu viel, zu oft, zu fragmentiert.

Copia entstand zehn Jahre früher — 2015, als Infinite Scroll Standard wurde und permanente Erreichbarkeit noch als Feature galt, nicht als Problem. Vier Jahre bevor Apple Screen Time einführte. Sechs Jahre bevor "News Fatigue" zum Fachbegriff wurde. Das Projekt stellte eine Frage, die damals gegen die Zeitgeist-Logik lief:

Was, wenn das Problem nicht zu wenig Information ist, sondern zu viel? Was, wenn permanente Verfügbarkeit nicht Informiertheit schafft, sondern Überforderung?

Der Problemraum

Copia adressierte drei strukturelle Charakteristika, die Nachrichtenkonsum von deliberater Auseinandersetzung zu erschöpfendem Hintergrundrauschen verwandelten:

  • Permanenz ohne Priorisierung

    Traditionelle News-Feeds akkumulieren endlos. Hunderte ungelesener Artikel, tausende Push-Notifications. Das erzeugt chronische informationelle Verschuldung. Man fühlt sich immer hinterher, nie ausreichend informiert. FOMO wird zum architektonischen Prinzip.

  • Reflexhafter Konsum statt bewusster Auseinandersetzung

    Wenn jede freie Sekunde mit News-Check gefüllt werden kann, wird Information zum Lückenfüller. Drei Minuten Wartezeit? Schnell den Feed durchscrollen. Das verschiebt Nachrichtenkonsum von intentionaler Auseinandersetzung zum beiläufigen Zeitvertreib.

  • Fehlender Kontext durch Source-Fragmentierung

    Die meisten Aggregatoren zeigen einzelne Stories aus individuellen Quellen. Ein Artikel hier, ein Video dort. Das verhindert Kontextualisierung. Man sieht Momentaufnahmen ohne Entwicklung, Standpunkte ohne Gegenperspektiven, Behauptungen ohne Einordnung. Die Welt hinter dem Tellerrand wird unsichtbar.

Das waren keine UX-Schwächen. Das war die logische Konsequenz von Systemen, die auf maximale Verfügbarkeit optimieren — mehr Content, mehr Updates, mehr Engagement.

Interface der Anwendung
Die Übersicht stellt die sechs relevantesten Nachrichten des Tages dar.

Vier Gegenprinzipien

Copia war als funktionale Kritik konzipiert, nicht als Produktvision. Es operationalisierte vier Prinzipien, die der Logik permanenter Verfügbarkeit zuwiderliefen:

  • Zeitliche Begrenzung statt permanenter Verfügbarkeit

    Die Anwendung aktualisierte einmal täglich. Nachrichten von gestern verschwanden automatisch. Digitales Vergessen als Feature. Wenn Information nicht jederzeit abrufbar ist, bekommt sie Gewicht. Man öffnet Copia nicht reflexhaft zwischendurch, sondern bewusst zu einem selbstgewählten Zeitpunkt.

  • Kuratierte Relevanz statt endlosem Feed

    Sechs Stories pro Tag. Nicht sechzig, nicht sechshundert. Der Algorithmus analysierte Cross-Platform-Frequenz, temporales Clustering und Quellen-Diversität. Das Ergebnis: Übersicht statt Überflutung. Man konnte die Nachrichten des Tages in 20 Minuten erfassen, ohne das Gefühl, etwas Wichtiges verpasst zu haben.

  • Quellenvielfalt statt algorithmischer Personalisierung

    Eine Story setzte sich aus Material verschiedener Quellen zusammen: News-Portale, Tageszeitungen, Twitter, YouTube. Bewusst maximierte Heterogenität für Kontext, nicht Komfort. Quellenvielfalt ermöglichte den Blick über den eigenen Tellerrand.

  • Bewusste Interaktion statt Ambient Scrolling

    Kein Background-Loading, keine Push-Notifications, keine Infinite-Scroll-Mechanik. Jede Interaktion erforderte eine bewusste Aktion. Diese Reibung war kein Fehler, sondern Ziel: Sie zwang zur Frage »Will ich das wirklich wissen?« statt reflexhaftem Scrollen.

Interface der Anwendung
Einzelne Meldungen werden chronologisch geordnet. Die Position auf der y-Achse gibt die Relevanz an.

Das Interface

Die Anwendung manifestierte diese Gegenprinzipien durch bewusste Design-Constraints:

  • Chronologische Organisation mit Relevanz-Mapping

    Stories erschienen auf einer Timeline (x-Achse: Tageszeit), wobei die vertikale Position den algorithmischen Relevanz-Score anzeigte. Das machte die Kurations-Logik sichtbar. Kein Scrollen nötig, keine versteckten Inhalte. Alles Relevante war sofort erfassbar.

  • Zentrales Interaktionsparadigma

    Das Copia-Logo fungierte als primäres und einziges Interaktionselement. Keine Infinite-Scroll-Mechanik, keine algorithmisch generierten Vorschläge. Jede Story musste aktiv geöffnet werden.

  • Visuelle Hierarchie durch Knappheit

    Nur sechs sichtbare Stories gleichzeitig, jede mit visuellem Gewicht. Die Limitation verschob Verhalten von nervösem Checking zu konzentrierter Lektüre.

  • Temporale Transparenz

    Die Timeline zeigte nicht nur, wann Stories erschienen, sondern auch ihre Lebensdauer. Digitales Vergessen wurde visuell erfahrbar. Das reduzierte FOMO: Wenn Information begrenzt verfügbar ist, wird die Beziehung zu ihr bewusster.

Button-Element
Das Logo dient gleichzeitig als zentrales Interaktionselement.

Was sichtbar wurde und was danach folgte

Das Projekt offenbarte 2015 Spannungen, die erst Jahre später zum gesellschaftlichen Mainstream wurden:

Der Wert von Knappheit

Wenn Nachrichten nur einmal täglich verfügbar waren und automatisch verschwanden, änderte sich das Leseverhalten fundamental. Nutzer:innen lasen langsamer, konzentrierter, vollständiger. Knappheit erzeugt echte Aufmerksamkeit. Permanente Verfügbarkeit degeneriert Information.

FOMO als System-Output

Ein Großteil des Nachrichtenkonsums war nicht informationell motiviert, sondern nervös. Menschen checkten News nicht, weil sie etwas wissen wollten, sondern weil sie nicht wissen konnten, ob sie etwas verpassten. FOMO war keine psychologische Schwäche. Es war das logische Resultat von Systemen, die auf permanente Erreichbarkeit designed waren.

Der Kontext-Effekt

Quellenvielfalt veränderte, wie Information verstanden wurde. Eine Story aus mehreren Perspektiven wirkte nicht fragmentierter, sondern vollständiger. Sie zeigte nicht nur das Ereignis, sondern die Debatte darüber. Der eigene Tellerrand ist nur sichtbar, wenn man gezwungen wird, über ihn hinauszuschauen.

Diese Erkenntnisse waren 2015 noch abstrakt. Dann begannen die strukturellen Probleme sichtbar zu werden:

  • Die Platform-Reaktion (2018-2019)

    Apple führte Screen Time ein und erkannte damit an, dass permanente Verfügbarkeit ein Design-Problem war, keine Nutzerschwäche. Instagram testete das Ausblenden von Like-Counts. Digital Wellbeing entwickelte sich von Nischenthema zu Standard-OS-Feature. Die Plattformen reagierten — aber nur an der Oberfläche.

  • Der kulturelle Kollaps (2021-2024)

    "Doomscrolling" wurde zum Alltagswort. News Fatigue von individuellem Empfinden zu dokumentiertem Phänomen. Studien zeigten: Mehr News-Konsum korrelierte nicht mit besserer Informiertheit. Jüngere Generationen wenden sich systematisch von Nachrichtenkonsum ab. Nicht aus Desinteresse, sondern aus Überforderung.

Was bleibt

Copia war nicht prädiktiv für spezifische Entwicklungen. Es war diagnostisch für strukturelle Bedingungen, die bestimmte Konsequenzen unvermeidlich machten. Wenn Systeme auf permanente Verfügbarkeit und maximalen Durchsatz optimieren, ist Erschöpfung kein Bug — es ist der Output.

«One of my lessons from infinite scroll: that optimizing something for ease-of-use does not mean best for the user or humanity.»
Aza Raskin (Erfinder von Infinite Scroll)

Copia demonstrierte genau diesen Konflikt. Zwischen technischer Optimierung und menschlicher Nachhaltigkeit lag eine Lücke, die 2015 noch nicht Teil des Mainstream-Diskurses war. Die strukturellen Mechanismen (infinite Feeds, permanente Updates, algorithmische Maximierung von Verweildauer) bleiben dominant. Und die Konsequenz zeigt sich jetzt: Eine Generation, die sich von Nachrichten abwendet, weil das System ihre Beziehung zu Information erschöpft hat.

Das Projekt entstand im Kurs »Entschleunigung« unter Betreuung von Prof. Erich Schöls im 4. Semester.